Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz 2015 – erneute Änderung des Baugesetzbuchs
2015-11-191. Anlass und Zustandekommen
Das Baugesetzbuch ist erneut geändert worden; die Änderung trat am 24. Oktober 2015 in Kraft (BGBl. I S. 1722).
Erst am 27. November 2014 war eine Änderung des BauGB (Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen“ v. 20.11.2014, BGBl. I S. 1748) in Kraft getreten, die auf den Zustrom von Flüchtlingen und Asylbegehrenden mit bauplanungsrechtlichen Regelungen geantwortet hat mit dem Ziel, Planung und Zulässigkeit von Vorhaben der veränderten Situation anzupassen (hierzu Krautzberger, Neue städtebaurechtliche Regelungen für den Flüchtlingswohnungsbau, GuG 2015, S. 97). Mit der sich im Laufe des Jahres 2015 abzeichnenden massiven Zunahme der Flüchtlingszahlen begannen im August 2015 unter Federführung des Bundesministeriums des Innern (BMI) - unter Einbindung der Staatskanzleien und Innenressorts der Länder - ressortübergreifende Vorbereitungen für ein umfassendes „Asylpaket“. Von Anfang an sollten hierbei auch „bau- und vergaberechtliche Hemmnisse“ bei der Schaffung von Flüchtlingsunterkünften, einschließlich des Bauplanungsrechts, in den Blick genommen werden. Am 18.9.2015 hat das Bau- und Umweltministerium (BMUB) einen Referentenentwurf - beschränkt auf den „BauGB-Artikel“ - Ländern und kommunalen Spitzenverbänden zur Stellungnahme übersandt; der Gesamtentwurf des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes wurde vom BMI am 22.9.2015 versandt. Zugleich wurde der Entwurf in den Koalitionsfraktionen diskutiert. Am 25.9.2015 war das „Asylpaket“ Gegenstand des „Flüchtlingsgipfels“ des Bundeskabinetts mit den Ministerpräsidenten der Länder im Bundeskanzleramt. Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf am 29.9.2015 beschlossen. In den Bundestag wurde der Entwurf indes nicht als Regierungs-, sondern zwecks Beschleunigung als Koalitionsentwurf, also „aus der Mitte des Bundestages“ (Art. 76 Abs. 1 GG), eingebracht (BT-Drs. 18/6185); andernfalls wäre nach Art. 76 Abs. 2 GG ein Erster Durchgang im Bundesrat erforderlich gewesen, dessen es nach dem „Flüchtlingsgipfel“ am 25.9.2015 politisch nicht mehr bedurfte. Die erste Beratung im Bundestag fand am 1.10.2015 statt. Es folgte – allerdings nicht speziell zu bauplanungsrechtlichen Themen – am 12.10.2015 eine öffentliche Anhörung im Bundestagsinnenausschuss. Die abschließenden Ausschussberatungen fanden am 14.10.2015 statt. Der Gesetzesbeschluss des Bundestages erfolgte am 15.10.2015. Der Bundesrat erteilte seine Zustimmung (der es bei isolierten BauGB-Änderungen nicht bedurft hätte) bereitseinen Tag danach, am 16.10.2015, so dass das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz am 24.10.2015 in Kraft treten konnte (BGBl. I S. 1722).
Grundlage der Neuregelungen war die Auswertung einer Vielzahl von Vorschlägen von Ländern und kommunalen Spitzenverbänden. Diese zeichneten sich durch eine sehr unterschiedliche Reichweite und Zielsetzung aus. Exemplarisch hierfür ist die Bundesratsinitiative des Landes Niedersachsen, der sich die Länder Baden-Württemberg, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen angeschlossen haben (BR-Drs. 404/15): In der Einleitung heißt es dort, dass die Bundesregierung gebeten werde, die „Anwendbarkeit bestimmter Vorschriften des Bauplanungsrechts (…) für einen befristeten Zeitraum für Einrichtungen der Flüchtlingsunterbringung auszusetzen (Moratorium)“, im eigentlichen Antrag geht es dann (lediglich) um die Schaffung einer dem § 246 Abs. 10 BauGB vergleichbare Regelung für reine Wohngebiete. Die Bundesratsinitiative wurde aufgrund des Fortschritts des Gesetzgebungsverfahrens nicht weiter verfolgt; aus ihr wird jedoch erkennbar, dass es zweierlei Anliegen Rechnung zu tragen galt:
- Teils gab es innerhalb der bestehenden bauplanungsrechtlichen Systematik Bedarf nach gezielten Erleichterungen, sei es in Bebauungsplangebieten, sei es im nicht beplanten Innenbereich, sei es im Außenbereich.
- Teils bestand jenseits der Systematik des Bauplanungsrechts Bedarf nach Lockerungen.
Dem Vorschlag der Bundesregierung, dem sich der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates im Wesentlichen angeschlossen hat, liegt daher ein zweistufiges System zugrunde:
- Innerhalb der bauplanungsrechtlichen Systematik werden für unterschiedliche Bedarfe gezielte Erleichterungen geschaffen.
- Reichen die gezielten Erleichterungen nicht aus, sind weitgehende Abweichungen vom Bauplanungsrecht im erforderlichen Umfang möglich.
Ergänzt wird dies durch die Anordnung einer Rückbauverpflichtung für solche Vorhaben, die einen besonders starken Eingriff in die übliche Bauplanungsrechtssystematik darstellen. Zudem wurden einzelne Verfahrenserleichterungen geschaffen.
2. Die Neuregelungen im Überblick:
a) Umnutzung von Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäuden nach § 34 Abs. 3a BauGB (§ 246 Abs. 8)
Bis zum 31. Dezember 2019 kann im nicht beplanten Innenbereich vom Erfordernis des Einfügens bei der Nutzungsänderung aller zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen in bauliche Anlagen, die der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen, abgewichen werden. Über die bereits bislang in § 246 Abs. 8 2014 genannten Verwaltungs-, Büro- und Geschäftsgebäude hinaus, kann dies vor allem bei Schulen, sonstigen Bildungszwecken dienenden Gebäuden und Krankenhäusern in Betracht kommen, die sich freilich vielfach bereits nach allgemeinen Regeln einfügen können. Für den nicht beplanten Innenbereich wurde in damit die Möglichkeit, vom Erfordernis des Einfügens abzuweichen, nicht auf die Umnutzung von Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäuden beschränkt; vielmehr kann bei Nutzungsänderung sämtlicher zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen in Anlagen der Flüchtlingsunterbringung vom Erfordernis des Einfügens abgesehen werden.
b) Anlagen für soziale Zwecke in den einzelnen Baugebieten (§ 246 Abs. 11)
Um die Bedeutung des Belangs der Flüchtlingsunterbringung noch stärker zu betonen, gilt § 31 Absatz 1 BauGB bis zum 31. Dezember 2019 mit der Maßgabe, dass dort die Genehmigung in den Baugebieten nach den §§ 2 bis 7 der Baunutzungsverordnung (BauNVO) in der Regel erteilt werden soll. Die Formulierung „sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende“ zielt – wie auch in § 246 Absatz 10 und den Folgeabsätzen – auf dezentrale, kommunale Einrichtungen
c) Ausnahmen und Befreiungen (§ 246 Abs. 12)
§ 246 Abs. 12 bestimmt: Bis zum 31.12.2019: Für die auf längstens drei Jahre zu befristende Errichtung von – im Regelfall als Unterfall von sozialen Einrichtungen einzuordnenden – mobilen Unterkünften (insbesondere Wohncontainer und Zelte) oder die ebenfalls auf drei Jahre zu befristende Nutzungsänderung zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen in Gewerbe- und Industriegebieten sowie in Sondergebieten nach den §§ 8 bis 11 BauNVO (auch in Verbindung mit § 34 Absatz 2 BauGB) in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende ist bis zum 31. Dezember 2019 eine Befreiung auch dann möglich, wenn die Grundzüge der Planung berührt werden. Behelfsunterkünfte können damit z. B. auch auf festgesetzten Gemeinbedarfsflächen (etwa Parkplätzen) genehmigt werden. Die Regelung findet auch in reinen Wohngebieten, Gewerbegebieten und Industriegebieten Anwendung.
Die Abweichung muss auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar sein. Insoweit wird zu beachten sein, dass angesichts der nationalen und drängenden Aufgabe bei der Flüchtlingsunterbringung Nachbarn vorübergehend auch ein Mehr an Beeinträchtigungen zuzumuten ist.
d) Außenbereich (§ 246 Abs. 13)
Im Außenbereich (§ 35) gilt unbeschadet des Absatzes 9 bis zum 31.12.2019 die Rechtsfolge des § 35 Absatz 4 Satz 1 entsprechend für 1. die auf längstens drei Jahre zu befristende Errichtung mobiler Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende, 2. die Nutzungsänderung zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen, auch wenn deren bisherige Nutzung aufgegeben wurde, in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende, einschließlich einer erforderlichen Erneuerung oder Erweiterung. Für Vorhaben nach Satz 1 gilt § 35 Absatz 5 Satz 2 Halbsatz 1 und Satz 3 entsprechend.
Wird zum Zeitpunkt einer Nutzungsänderung nach Satz 1 Nummer 2 eine Nutzung zulässigerweise ausgeübt, kann diese im Anschluss wieder aufgenommen werden. im Übrigen gelten für eine nachfolgende Nutzungsänderung die allgemeinen Regeln.
Die Rückbauverpflichtung nach Satz 2 entfällt, wenn eine nach Satz 3 zulässige Nutzung aufgenommen wird oder wenn sich die Zulässigkeit der nachfolgenden Nutzung aus § 30 Absatz 1, 2 oder § 33 ergibt. Die Sicherstellung der Rückbauverpflichtung nach Satz 2 in entsprechender Anwendung des § 35 Absatz 5 Satz 3 ist nicht erforderlich, wenn Vorhabenträger ein Land oder eine Gemeinde ist.
Für die vorgenannten Vorhaben ist zudem § 35 Abs. 5 S. 2 und 3 BauGB und damit das Rückbaugebot für zeitlich „privilegierte“ Außenbereichsvorhaben nach Wegfall der Privilegierung entsprechend anzuwenden. Zuvor ausgeübte Nutzungen können in den Fällen der zwischenzeitlich vorgenommenen Nutzungsänderungen allerdings wieder aufgenommen werden. Eine ausdrücklich angeordnete Rückbauverpflichtung ist nicht erforderlich, wenn Vorhabenträger ein Land oder eine Gemeinde ist. Das wird wohl auch für die Kreise gelten.
e) Gemeindliches Einvernehmen nach § 36 (§ 246 Abs. 15)
Nach § 246 Abs. 15 gilt in Verfahren zur Genehmigung von baulichen Anlagen, die der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen, bis zum 31. Dezember 2019 das Einvernehmen der Gemeinde abweichend von § 36 Absatz 2 Satz 2 BauGB (auch in Verbindung mit § 246 Absatz 10 Satz 2 und Absatz 12 Satz 2 BauGB) als erteilt, wenn es nicht innerhalb eines Monats verweigert wird.
f) Generalklausel analog § 37 BauGB (§ 246 Abs. 14)
In Anknüpfung an § 37 BauGB, der nach bisheriger Rechtslage auf Aufnahmeeinrichtungen der Länder Anwendung finden kann, wird in einem Sondertatbestand geregelt, dass für Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinrichtungen oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende bis zum 31. Dezember 2019 von den Vorschriften des BauGB oder den aufgrund des BauGB erlassenen Vorschriften in erforderlichem Umfang abgewichen werden kann. Dies gilt auch, wenn die Einrichtung von einem Dritten (z. B. von Landkreisen oder Privaten) betrieben wird. Auch auf Einrichtungen, die aufgrund von Regelungen nach § 50 Absatz 2 des Asylgesetzes von einer Gemeinde (oder von einem Dritten, der von der Gemeinde beauftragt ist) im übertragenen Wirkungskreis betrieben werden, soll die Regelung Anwendung finden.
Diese Abweichungsbefugnis ist an die Voraussetzung gebunden, dass auch bei Anwendung von § 246 Absatz 8 bis 13 BauGB dringend benötigte Unterkunftsmöglichkeiten im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können.
In Anlehnung an § 37 Absatz 2 Satz 2 BauGB tritt an die Stelle eines Einvernehmens die Anhörung der Gemeinde. Diese Anhörung tritt auch an die Stelle des nach § 14 Absatz 2 Satz 2 BauGB bei Ausnahmen von einer Veränderungssperre üblichen Einvernehmens.
g) Beteiligung der Naturschutzbehörden (§ 246 Abs. 16)
Nach § 246 Abs. 15 soll in Verfahren zur Genehmigung von baulichen Anlagen, die der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen, bis zum 31. Dezember 2019 das Einvernehmen der Gemeinde abweichend von § 36 Absatz 2 Satz 2 BauGB (auch in Verbindung mit § 246 Absatz 10 Satz 2 und Absatz 12 Satz 2 BauGB) als erteilt gelten, wenn es nicht innerhalb eines Monats verweigert wird.
h) Bedeutung der Befristungen (§ 246 Abs. 17)
In § 246 Abs. 17 wird bestimmt, dass sich die § 246 Abs. 8 bis 16 vorgesehene Befristung nicht auf die Geltungsdauer einer Genehmigung, sondern auf den Zeitraum bezieht, in dem insbesondere im bauaufsichtlichen Zulassungsverfahren von den Vorschriften Gebrauch gemacht werden kann.
i) Inkrafttreten und Überleitung
Die Neuregelung ist gem. Art. 15 des Asylbeschleunigungsgesetzes am Tag nach der Verkündigung in Kraft getreten, also am 24. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). Für die Überleitung vgl. § 233 BauGB.
3. Eine erste Bewertung
Die intensive Gesetzgebungstätigkeit „um“ die Frage des Zustroms von Flüchtlingen und Asylbewerbern ist eine Reaktion auf die Dringlichkeit der Probleme und der Unsicherheit in der Einschätzung der Problemlösung. Es handelt sich bei der Novelle 2015 nicht nur um ein schnelleres Gesetzgebungsverfahren als schon beim BauGB-Flüchtlingsunterbringungsgesetz 2014, sondern um eines der schnellsten Gesetzgebungsverfahren dieses Umfangs in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt. Es bleibt zu hoffen, dass künftige Novellen des BauGB in den bewährten Verfahren bei auch zeitlich ausreichender Einbindung von Ländern und Verbänden – insbesondere auch unter Durchführung eines Planspiels – durchgeführt werden können. Die üblichen Verfahren und Fristen bei Gesetzgebungsverfahren mögen bei akutem Handlungsdruck zu langwierig erscheinen: im Normalfall jedoch bleibt die intensive Beteiligung der verschiedenen Akteure für eine qualitätvolle Gesetzgebung unverzichtbar, vor allem in der BauGB-Gesetzgebung, die traditionell auf einen breiten Konsens zielt. Abzuwarten ist, ob sich bei der nachhaltigen Integration der Zuwanderer neue Herausforderungen an den Städtebau und seine Rechtsgrundlagen stellen oder ob die Instrumente auch des Besonderen Städtebaurechts – Sanierung, Soziale Stadt, Stadtumbau und Entwicklungsmaßnahme – adäquate Lösungen erlauben.